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Gehvermögen in fremder Umgebung ist entscheidend - Nachteilsausgleich aG für schwer geistig behinderten 12jährigen

Datum: 26.03.2021

Kurzbeschreibung: Nach Sinn und Zweck des Nachteilsausgleichs aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) ist maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen in einer dem Schwerbehinderten fremden Umgebung eingeschränkt ist.
Unerheblich ist, ob das Gehvermögen ggfs. in vertrauter Umgebung besteht.


Urteil vom 18.03.2021, Aktenzeichen L 6 SB 3843/19

Bei dem geistig behinderten 12jährigen Kläger K besteht seit Geburt der Gendefekt Mikrodeletion 22q11.2 (hierbei ist ein winziger Teil der Erbinformation auf dem Chromosom 22 verloren gegangen. Jedes 4.000ste Neugeborene ist betroffen). Infolgedessen besteht eine globale Entwicklungsstörung (Störung der Körpermotorik, mittelschwere Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung, fehlende Sprachentwicklung etc.). 

Das beklagte Land Baden-Württemberg stellte u.a. einen GdB von 80 fest. Ks Antrag vom April 2016, auch die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen, lehnte es hingegen ab: Entscheidend sei, ob das Gehvermögen anhaltend auf das Schwerste eingeschränkt sei. K könne hier aber auf bekannten Wegen ohne Orthesen frei gehen. 

Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das SG den Beklagten verpflichtet, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs aG festzustellen. Denn K bewege sich außerhalb des Hauses ausschließlich im Rollstuhl oder im Reha-Buggy. In nicht vertrauter Umgebung könne er nur sehr eingeschränkt laufen. 

Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat der 6. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg zurückgewiesen: Ks mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, wie sie in einer für ihn fremden Umgebung auftrete, entspreche einem GdB von mindestens 80. Sie sei vergleichbar dem Verlust beider Beine im Unterschenkel oder der Versteifung beider Hüftgelenke. Darüber hinaus sei sie auch erheblich, da sich K wegen der Schwere seiner Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Zwar könne K in einer ihm bekannten Umgebung, insbesondere im häuslichen Bereich oder in der Schule, selbständig eine Strecke von bis zu 1,5 km frei zurücklegen und habe dann auch eine große Ausdauer beim Gehen. Der Nachteilsausgleich aG mit der Parkmöglichkeit auf Behindertenparkplätzen sei jedoch maßgeblich auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Denn damit sei bezweckt, die Gehstrecke in alltäglichen Angelegenheiten wie beim Arztbesuch, beim Einkaufen oder beim Besuch von kulturellen Einrichtungen zu integrieren. In fremder Umgebung sei K aber verunsichert und benötige praktische Unterstützung bereits bei Entfernungen über wenige Meter. Dann könne er nur stark gebeugt im Kauergang laufen, müsse sich bei einer Betreuungsperson abstützen oder gar im Rollstuhl bzw. Reha-Buggy transportiert werden. 

Hinweis zur Rechtslage

Die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ hat straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO zur Folge, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen „Behindertenparkplätzen“ und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen. Darüber hinaus führt sie u.a. zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§ 228 Abs. 1 SGB IX) und gegebenenfalls zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten.

Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

Nach der Gesetzesbegründung kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: Bei Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist, bei einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten), bei schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit, schwersten Gefäßerkrankungen, Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades. 

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